Offener Brief

Diesen Offenen Brief haben wir am 15. Februar 2023 an Stadtrat Christoph Wiederkehr, Bildungsdirektor Heinrich Himmer, weitere Verantwortliche in Politik und Verwaltung sowie an die Presse geschickt:

Offener Brief an die Verantwortlichen der Politik und die Bildungsdirektion in Wien

Februar 2023

Inklusion im Bildungsbereich: Lasst den Worten Taten folgen
Integrative Mehrstufenklassen brauchen langfristige Mittelzusage

Wir, die Initiative „Bessere Schule Jetzt“, unterstützt vom Österreichischen Behindertenrat, der Lebenshilfe Österreich und Integration Wien haben (erneut) große Sorge, dass
Integrative Mehrstufenklassen bald aus der Wiener Bildungslandschaft verschwunden sein werden. Von Seiten der Expert*innen, Pädagog*innen und Behindertenorganisationen gelten Integrative Mehrstufenklassen als Best Practice im Bereich der Inklusion. Dennoch standen sie letztes Jahr kurz vor dem Aus. Nun ist ihre Zukunft wieder ungewiss.

Drohendes Aus für moderne, inklusive und innovative Klassenform

In Integrativen Mehrstufenklassen werden Kinder mit und ohne Behinderung, altersgemischt (von der Vorschule bis zur 4. Schulstufe) gemeinsam unterrichtet.
Diesen Klassen stehen ab 25 Kindern

  • ein*e Volksschullehrer*in mit voller Lehrverpflichtung (22 Wochenstunden),
  • ein*e Sonderpädagog*in mit voller Lehrverpflichtung (22 Wochenstunden) und
  • Teamstunden im Ausmaß von 10 Wochenstunden zur Verfügung.

Diese Teamstunden wurden in den letzten Jahren bereits von einmal 20 Wochenstunden auf dieses absolute Minimum gekürzt.
Für letztes Schuljahr stand im Raum auch noch diese 10 Teamstunden zu streichen. Das hätte das definitive Aus dieser modernen und innovativen Klassenform bedeutet.

In einem offenen Brief wandten sich 154 Lehrer*innen aus Schulen mit Integrativen Mehrstufenklassen an die Politik und forderten adäquate Mittel, um diese Klassenform weiterführen zu können. Sie beschrieben die Vorteile damals so:

„Seit ca. 25 Jahren wird der Unterricht in den Integrativen Mehrstufenklassen so inklusiv, wie es die schulischen Rahmenbedingungen zulassen, gestaltet. Kindern mit besonderen
Bedürfnissen (ca. 5/6 Kinder mit Behinderung pro Klasse) kommt diese Unterrichtsstruktur besonders entgegen: Individualisierung und Differenzierung sind Unterrichtskonzept für ALLE Kinder der Klasse, egal ob sie Beeinträchtigungen haben oder nicht. Es gibt nicht die Mehrheit, die das gleiche lernt und ein paar Kinder, die etwas anderes brauchen.
Durch die Altersmischung ist es den Kindern leichter als in einstufigen Klassen möglich, Lern- und Spielpartner*innen auf dem jeweiligen Entwicklungsstand zu finden (zum Beispiel werden jedes Jahr Buchstaben und Zahlen erarbeitet, dadurch bieten sich immer wieder Gelegenheiten inhaltlich – je nach Entwicklungsstand – anzuknüpfen). Jüngere Kinder können in eine bestehende Gruppe hineinwachsen und von erfahreneren Kindern lernen.“

Im Rahmen eines von der Lebenshilfe organisierten „Runden Tisches“ im April 2022 verdeutlichten Expert*innen und Betroffene den  Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung erneut, wie wichtig diese Klassenform ist.
Im Juni 2022 wurde die drohende gänzliche Streichung der Stunden für Teamlehrer*innen schließlich für ein weiteres Jahr ausgesetzt. Bildungsdirektor Heinrich Himmer beteuerte, alle Integrativen Mehrstufenklassen erhalten zu wollen und sicherte die Teamstunden für das Schuljahr 2022/23 zu.

So konnten die Integrativen Mehrstufenklassen für ein weiters Schuljahr fortbestehen, auch wenn das nur wegen des hohen persönlichen Einsatzes der Lehrkräfte und unter äußerst schwierigen und kräftezehrenden Bedingungen (zu hohe Klassenschüler*innenzahlen, keine Spielräume für individuelle Förderung, zu hoher Bürokratie- und Dokumentationsaufwand, nur Minimum an Lehrer*innenstunden für Pflichtunterricht, erschwertes Teamteaching mit Freizeitpädagog*innen, Krankenstände, Personalmangel) möglich war.

Nun, ein Jahr später müssen Schüler*innen, Eltern, Pädagog*innen und Schulen schon wieder um den Fortbestand Integrativer Mehrstufenklassen zittern.

  • Weiterbestand von Integrativen Mehrstufenklassen ab 2023/24 unsicher
    Die Zusage der Teamstunden erfolgte nur für dieses Schuljahr (2022/23). Nach wie vor fehlt ein in Lehrer*innenressourcen gegossenes, echtes Bekenntnis zu dieser wertvollen und wichtigen Klassenform von Seiten der Stadt Wien und des Stadtrats oder der Bildungsdirektion.
  • Ungewissheit ist zermürbend
    Die Unsicherheit, ob es Integrative Mehrstufenklassen im nächsten Jahr überhaupt noch geben kann, ist für Eltern, die ihr Kind gerade einschreiben, als auch für derzeitige Schüler*innen und ihre Familien unzumutbar! Schulkonzepte brauchen Planbarkeit!
  • Unterjährige Zwangsversetzungen zeugen von Unberechenbarkeit
    Die Zwangsversetzungen von Team- und Beratungslehrer*innen seit Dezember 2022 haben gezeigt, dass das Versprechen, den Integrativen Mehrstufenklassen für das Schuljahr 2022/23 die Teamstunden zuzugestehen, nicht viel wert ist.
  • Qualitätsanspruch wird konterkariert
    Die von der Bildungsdirektion stets geforderte Schulentwicklung wird durch die unsicheren und generell schwierigen Rahmenbedingungen konterkariert.


Wir fordern die Verantwortlichen der Stadt Wien in aller Dringlichkeit auf, sich nicht nur mit Worten zu Integrativen Mehrstufenklassen zu bekennen.


Wir fordern in einem ersten Schritt die langfristige Zusage und Zuteilung des Minimums von 10 Teamstunden und die Erhöhung dieses Kontingents, sobald es die Personalsituation zulässt.


Lehrkräfte wollen pädagogisch wertvolle Arbeit leisten. Die Politik sollte alles daran setzen dafür die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen und gelingende Ansätze für Inklusion abzusichern und auszubauen.


Ist die Politik nicht bereit zumindest das Minimum an Ressourcen für Integrative Mehrstufenklassen dauerhaft bereitzustellen, werden noch mehr Lehrer*innen aufgrund von Überforderung aufgeben und Schulen diese Klassen schließen. Ein großer und wertvoller Beitrag zur Inklusion würde verloren gehen, indem lang gewachsene, funktionierende Strukturen für immer zerstört würden!

Zur Erinnerung: Laut Angaben der Bildungsdirektion von 2022 gibt es in Wien ca. 70 Mehrstufenklassen mit Integration. Demnach handelt es sich um ungefähr 35 Dienstposten, die für die Abdeckung der Teamstunden bereitgestellt werden müssen (bei derzeit über 5.400 Dienstposten im Volksschulbereich).


Das müssen der Stadt Wien Schulkinder mit Behinderung wert sein!

Bessere Schule jetzt!
Österreichischer Behindertenrat
Lebenshilfe Österreich
Integration Wien